FIGURENTHEATER IN PFORZHEIM

Ein besonderes Theater ist das „Figurentheater Mottenkäfig“ im Pforzheimer Stadtteil Brötzingen. In einem denkmalgeschützten Gebäude auf dem Areal des Stadtmuseums kann der Zuschauer das ganze Spektrum des Figurentheaters erleben.

Die 1987 gegründete Profibühne Figurentheater Raphael Mürle und die seit über 50 Jahren tätige Amateurtheatergruppe Marionettenbühne Mottenkäfig e. V. betreiben gemeinsam diese Spielstätte.

Der Zuschauerraum bietet mit seinen 99 Sitzplätzen einen intimen Rahmen für das sensible Figurenspiel.

Von Oktober bis Mai sind bis zu 100 Aufführungen für Kinder und Erwachsene auf dem Spielplan zu finden. Im besonderen Maße werden literarische Stoffe für das Figurentheater bearbeitet und so auch ein interessantes Abendprogramm für Erwachsene geboten. Es sind die unterschiedlichsten Figurenarten zu sehen: Handpuppen, Stabfiguren, Schattenspiel, Maskentheater und Marionetten.

Gastspiele international renommierter Figurentheaterspieler runden den Spielplan ab.

Was ist Figurentheater?

Figurentheater ist kein neues Wort für Puppentheater, sondern ein Oberbegriff für eine Theatergattung, die in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung vollzogen hat. „Puppe“ scheint als Bezeichnung für das, was die Spieler als Instrument ihrer Darstellung benutzten, nicht mehr ausreichend. Die Marionetten, Stabfiguren, Masken, Objekte oder Schattenrisse sind alles andere als niedlich oder „puppig“. So hat sich mehr und mehr der Begriff „Figurentheater“ durchgesetzt.



Welche Möglichkeiten hat das Figurentheater?

Längst hat man die Grenzen des traditionellen Puppenspiels hinter sich gelassen, das seine Wurzel im Jahrmarkttheater und Wanderbühnengewerbe hatte. Die Enge des Guckkastens und das Verstecken hinter einem Paravent wurde ebenso aufgebrochen, wie das Festhalten an dem festgefahrenen Figurenrepertoire von Kasper, Teufel und Prinzessin. Die Auseinandersetzung mit der Theaterfigur als materialisierte Rolle brachte eine Entwicklung ins Rollen, die bis heute anhält. Die unglaubliche Vielfalt und die schier unbegrenzten Möglichkeiten machen das Figurentheater zu einem der spannendsten Medien im Kunstbereich. Der Spieler bleibt oftmals sichtbar und wird aktiver Bestandteil einer Inszenierung. Der Gestaltung der Figuren kommt jetzt besondere Bedeutung zu, denn Größe, Materialwahl, Farbe, Animationstechnik und anderes tragen, neben dem Aussehen, zur Charakterisierung der Rolle bei.

 

Was kann die Figur?

Während ein Schauspieler in seine Rolle hineinschlüpft, sie also „verkörpert“, hat der Figurenspieler eine materielle Gestalt neben sich, die es zu beleben gilt. Der Figurenspieler muss ebenso wie der Schauspieler die erforderlichen Emotionen für die Rolle in sich erzeugen und auf die Figur, die er in der Hand hält oder am Körper trägt, projizieren. Der Gestaltung einer Figur sind aber keine Grenzen gesetzt: vom amorphen Stoffknäuel über Alltagsgegenstände bis hin zur gestalteten Figur - alles kann zum Rollenträger werden. Die Übertreibung, die Abstraktion und die Darstellung einzelner Wesenszüge sind dabei die größten Stärken der Figur. Die Faszination, die ein zum Leben erwecktes „Material“ auslöst, ist auch heute noch ein ungeklärtes Phänomen.

 

Was zeichnet das Figurentheater von Raphael Mürle aus?

Schon sehr früh begann Raphael Mürle mit dem Puppenspiel. Mit 7 Jahren baute er die erste Marionette. Später entstanden komplette Figurensätze für Märchen. Schon vor dem Studium für Figurentheater entstand ein erstes Abendprogramm, nämlich „Szenen mit Marionetten“. Das Studium im Studiengang Figurentheater an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart brachte schließlich eine fundierte Ausbildung und erweiterte den Horizont in alle Richtungen. Die Begrenzung auf eine Figurentechnik, nämlich die Marionette, wurde aufgehoben und die Sprache fand endlich Einzug in das Repertoire. Als Diplomarbeit wählte Raphael Mürle das dramatische Fragment „Der Gruftwächter“ von Franz Kafka und zeichnete damit auch die Richtung für die zukünftige berufliche Theaterarbeit vor. Nicht Faust, Kalif Storch oder Zauberflöte, sondern ungewöhnliche, skurrile, ja absurde Vorlagen meist aus der Theaterliteratur sollten auf seiner Bühne umgesetzt werden.

Gerade Texte und Themen, die von Schauspielern nur schlecht oder gar nicht umgesetzt werden können, ziehen Raphael Mürle magisch an. Mit sehr eigenwilligen Bühnen schafft er imaginäre, bildhafte Räume wie sie nur im Figurentheater möglich sind. Die Wahl der Manipulationstechnik und die Auswahl der Baumaterialien sind wichtigen Entscheidungsprozessen unterworfen. Das heißt, eine Marionette kommt nur zum Einsatz, wenn es auch inszenatorisch Sinn macht, und Schaumgummi kann nur verwendet werden, wenn z.B. weiche, labile Figuren gefragt sind werden. Die Größenverhältnisse der Figuren untereinander und zum Raum geben weitere Auskünfte über das Personalgefüge eines Stückes.

In den ersten 10 Jahren seit der Gründung des Theaters 1987 spielten literarische Werke im Repertoire eine wichtige Rolle. Stücke von Franz Kafka, Woody Allen, Wolfgang Bauer, Nathaniel Hawthorne oder Stanislaw Witkiewicz fanden überzeugende Interpretationen auf der Pforzheimer Figurenbühne. Seit ca. 20 Jahren widmet sich Raphael Mürle eher freien Themen, die mit wenig oder gar keinem Text auskommen und die Bildsprache in den Vordergrund stellen. Die aktuellen Stücke „Paganini – die Magie der Töne“ oder „Caravaggio – Maler, Rebell und Genie“ leben sehr stark von der Visualisierung der Biographien der beiden Künstler und deren Werke; geboten wird in den Inszenierungen eindrucksvolles Bildertheater. In „Die Gesänge der Wale“ wird dem Mythos vom Wal nachgespürt. Die Zuschauer werden mitgenommen auf die Reise in eine geheimnisvolle, sagenumwobene Unterwasserwelt. In Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ werden Musik und Bildende Kunst zu einer kongenialen Einheit.

 

Ist Raphael Mürle nur Figurenspieler?

Raphael Mürle ist nicht nur als Spieler und Figurenbauer unterwegs, sondern auch als Regisseur, Dozent und Berater. Regieaufträge führten ihn nach Dortmund, Rottweil oder Arbon in der Schweiz. Im Kulturhaus Osterfeld hat er das Bühnenbild für „Das Totenfloß“ von Harald Mueller geschaffen.

Auch am Stadttheater Pforzheim wurde seine Fachkompetenz zu Rate gezogen. Schon zwei Mal (1992 und 2003) war er zuständig für die Figurenregie der fleischfressenden Pflanze Audrey im Musical „Der kleine Horrorladen“.

Außerdem ist Raphael Mürle als Dozent und Kursleiter gefragt, so z. B. an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart oder am Figurentheaterkolleg in Bochum.

 

Aber Raphael Mürle steht ja nicht nur als Solokünstler auf der Bühne?

Einige herausragende Kooperationen sind durchaus erwähnenswert. So entstand 2013 die Gemeinschaftsinszenierung „Am Anfang war die Kuh“ mit dem Stadttheater Pforzheim unter der Regie des Schauspieldirektors Murat Yeginer.

Seit 2013 haben sich Therese Gottschalk (Fab-Theater Stuttgart), Frank Soehnle (Figurentheater Tübingen) und Raphael Mürle zum Trio zusammengeschlossen, um die (Forschungs-)Arbeit an der Marionette gemeinsam fortzusetzen. Daraus entstand die international viel beachtete Inszenierung „Wunderkammer – Betrachtungen über das Staunen“.

Im Jahre 2017 gründete sich mit dem Zeichner Harald Kröner, dem Gitarristen Matthias Hautsch und Raphael Mürle ein weiteres Trio, das die Sparten Kunst, Musik und Theater in der performativen Inszenierung „Facetten“ zusammenführt.

 

Wie sieht die Zukunft des Figurentheaters aus?

So langsam stellt sich die Frage des Generationenwechsels. Junge Nachwuchstalente sollen aufgebaut werden, die das professionelle Figurenspiel in Pforzheim weiterführen können. Die gebürtige Pforzheimerin Susann Würth (Theater option orange) hat 1998 ihr Puppenspieldiplom in Berlin erworben und ist seitdem auch in Pforzheim präsent. Außerdem kehrt die junge Pforzheimerin Myriam Rossbach (Theater myre ro) nach ihrem Festengagement am Theater Koblenz (Puppenspielsparte) in ihre Heimatstadt zurück. Sie hat von 2010 – 2014 an der Ernst Busch Schule in Berlin Puppentheaterkunst studiert und bereichert seit 2018 die Pforzheimer Kulturszene mit ihrem Spiel.

Der Zusammenschluss der Freien Theaterkünstler Pforzheim/Enzkreis (gegründet 2016) stimmt zuversichtlich, dass auch hier in der Region das freie Theater mehr und mehr an Bedeutung gewinnt und auch von den kommunalen Zuschussgebern als echte kreative Keimzelle wahrgenommen wird.

 

Impressum / Datenschutzerklärung